(aus Deutschschweizer Gesellschaft für Transaktionsanalyse Info 1/17, S.28-30)

Die Zukunft des Zusammenwirkens – systemische Transaktionsanalyse

Zurzeit sieht sie etwas düster aus, die Zukunft. Der Kitsch ist dabei, die Macht zu übernehmen, wie es der Innsbrucker Professor Anton Pelinka formuliert (Pelinka, 2010). Was Kitsch in der Kunst ist, das Vereinfachte, Simplifizierte, einen oberflächlichen Alltagsgeschmack Befriedigende, stellt der Populismus in Gesellschaft und Politik dar. Die Komplexität der Welt, sowohl die emotionale aber auch die kognitive, wollen viele Menschen einfach nicht mehr realisieren. ‹Postfaktisch› wird die Sichtweise, man hat ‹alternative Fakten›. 

Psychologisch gilt: Es gibt nur Gegenwart. Auch die Vergangenheit ist das, was man in der Gegenwart daraus macht, wie man sie heute sieht. Der Erfinder der Transaktionsanalyse, Eric Berne, hat einige prognostische Theorien entwickelt, die man auf die politischen Bewegungen des Populismus anwenden kann. Bei psychologischen Spielen, den destruktiven Beziehungs- und Kommunikationsmustern, läuft alles auf ein vorhersehbares, schlechtes Ende, im Zweifelsfalle für alle Beteiligten, hinaus. Spiele beginnen mit Abwertungen, das heisst Ausblendungen von Aspekten der Realität. Die Abwertung wird wieder populär. Sie passt zum Populismus. Donal Trump hatte es geschafft, die Begriffe Flüchtling und Terrorist fast deckungsgleich zu verwenden, wie es der Schauspieler Richard Gere ausdrückte. Dabei ist Trump selbst mit einer Migrantin verheiratet und seine Familie stammte aus einem sehr armen Landstrich Deutschlands. Ein anderer Politiker möchte in einem europäischen Land mit sehr liberaler Tradition eine ganze Religion vertreiben. Selbst das Land von Liberté, Egalité und Fraternité steht am Scheideweg. 

Bei genauem Hinschauen ist die Unzufriedenheit mit dem so genannten Establishment gar nicht so unverständlich. Haben nicht die Eliten aus Wirtschaft und Politik 2008 den Karren der Weltwirtschaft an die Wand gefahren? Länder wie Grossbritannien, Spanien, Portugal und Griechenland haben sich bis heute nicht von dieser Wirtschaftskrise erholt. 

Es wurde übrigens niemals Abbitte geleistet, es gab keine Entschuldigung. Zur Glaubwürdigkeit hat das nicht beigetragen. Auf diesem Hintergrund kann man das Misstrauen, das viele Menschen ge- genüber dem ‹komplexen System› entwickelt haben, nachvollziehen. 

Zeigen sich Alternativen? 

Auf der Makroebene sind schon seit eini- ger Zeit Ansätze zur Gemeinwohlökonomie zu beobachten (z.B. Felber, 2010). Da- bei geht es um eine Umgestaltung von Unternehmen, ihren Lieferanten und den Konkurrenzbeziehungen hin zu einem deutlich kooperativeren und menschengerechten Umgehen miteinander. Man könnte sagen: Weg vom aus militärischen Traditionen stammenden Gegeneinander und hin zum transparenten und fairen Umgang. Im TA-Sinne wird hier eine ‹ab- wertungsfreie Zone› geschaffen. Auch das bedingungslose Grundeinkommen ist ein makroökonomischer Versuch das o.k.- Sein des Menschen praktisch zu verankern. In der Schweiz wurde das Volksbegehren zu 1’500 Franken Grundeinkommen zwar abgelehnt, realistischere Größenordnungen haben hier vielleicht mehr Chancen. 

Organisationsentwicklerisch sind die Gedanken jetzt insbesondere vom Belgier Frederik Laloux weitergedacht worden (Laloux, 2015, 2016). TA-Gedanken sind dabei an vielen Stellen erkennbar, weil sowohl Erwachsenen-Ich-Beziehungen (‹auf einer Augenhöhe›) als auch das Autonomieziel zentral sind. Laloux geht von der Grundthese einer Unzufriedenheit der Menschen mit den bestehenden Organisationsformen aus. Die jährliche Gallup- Studie ergibt mit grosser Konstanz, dass lediglich 13 bis 17 Prozent der Mitarbeiter hoch engagiert sind. Laloux beobachtete, dass vor allem die engagierten und an ganzheitlichem Sich-Einbringen in den Beruf interessierte Leute die Organisationen verlassen. 

Komplexität und Hierarchie 

Der Hauptpunkt, dass das Alte nicht mehr funktioniere, liege in der Unfähigkeit der Hierarchie Komplexität zu bewältigen. ‹Kein komplexes System funktioniert mit Hierarchie›, sagt er und führt als Beispiel das menschliche Gehirn an. Andere Beispiele für komplexe, selbststeuernde Systeme seien Zellen, Pflanzen, Bäume, der ganze Wald. Alle würden sich durch Selbstorganisation steuern. Für niedrige Komplexität könnten hierarchische Lösungen funktionieren, aber nicht für hohe Komplexität. Warum soll das für Organisationen nicht gelten? 

Die These, dass Hierarchie nicht in der Lage ist, hohe Komplexität zu bewältigen, bestätigt sich in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte: etwa bei VW und Deutsche Bank. Die Hierarchen waren so rigide: ‹Ihr habt gefälligst genau die von uns vorgegebenen Ziele zu erreichen.› Und mehr oder weniger unausgesprochenen: ‹Aber wir wollen nicht wissen, wie ihr das tut!› Zusammen mit lockenden Boni war damit abwertenden bis illegalen Praktiken der Weg bereitet. Die beiden Unternehmen kämpfen mittlerweile mit Milliarden hohen Strafzahlungen und letztlich um ihre Existenz. 

Praxisbeispiele 

Das Paradebeispiel der neuen Organisationsform ist für Laloux Buurtzorg. Die holländische Krankenpflegeorganisation für ambulante Dienste hat sich von der in dieser Branche weit verbreiteten tayloristisch organisierten Organisation, die die Krankenpflege im Minutentakt vollzieht, verabschiedet. Hierarchien sind sowohl im Inneren der Organisation, als auch nach aussen, den Patienten gegenüber, abgeschafft. Das hat die Pflege-Landschaft in den Niederlanden revolutioniert. Bei Buurtzorg setzt man sich zunächst mit dem Patienten zusammen und trinkt eine Tasse Kaffee. Der Krankenpfleger bespricht mit dem Patienten, wie dieser sozial eingebunden ist, wo vielleicht Unterstützungs- und Beziehungssysteme zur Verfügung stehen. Angeblich soll dadurch der Betreuungsaufwand und der Zeitdruck erheblich reduziert worden sein, so eine Untersuchung von E&Y. Es existiert ein System von Verbesserungsvorschlägen, das vom internen Netz und nicht von den Chefs beurteilt wird. 

Auch der nordfranzösische Autozulieferer FAVI wurde von seinem Geschäftsführer umgestaltet, nachdem dieser mit der bisherigen, alten Form unzufrieden war. Auch in diesem Industriebetrieb versucht man sich von dem Hierarchiegedanken zu verabschieden. Mittlerweile legt FAVI mit einer Daumenregel fest, wie viel Prozent 

der Einnahmen für Materialkosten, wie viel für Bezahlung, wie viel für Investitionen und wie viel für Profit genommen werden. Und bei FAVI kann ‹ein Arbeiter eine Maschine kaufen›. Die Maxime ist dann, dass er in einen Beratungsprozess eintreten muss. Er muss die Beteiligten und die Experten in einen Konsultationsprozess einbeziehen. Je grösser die Entscheidung, umso mehr Leute sind einzu- beziehen. Aber er behält das Heft in der Hand, nicht irgendeine weiter weg liegende Planungsabteilung oder ein über allem stehender Chef. An dieser Stelle wird auch die Verantwortung klar, die das neue System mit sich bringt. Entscheidungsprozesse und Beratungsprozesse werden in neuer Form gestaltet und verknüpft. Gerade bei Entscheidungen sei wesentlich, sich in den partizipativen Prozessen nicht vom Konsensprinzip bestimmen zu lassen. Es braucht effiziente Entscheidungsmuster. 

Eine weitere Musterorganisation, Holacracy, hat dazu einen umfangreichen, um nicht zu sagen sehr detaillierten Kodex der Rollenbeschreibungen und des Vorgehens beschrieben. ‹Tensions› (Spannungen) nehmen dabei einen grösseren Raum ein. Offensichtlich rechnet man mit dem Menschen noch so, wie er ist (Robertson, 2016). 

Das leidige Geld 

Wie läuft es mit der Bezahlung, wenn keine Hierarchie da ist? Kaum zu glauben, auch diese werden von den Betroffenen mit Hilfe eines Rankingsystems selbst bestimmt. Letztlich entscheidet ein gewähltes Komitee. Dies führt auch dazu, dass jemand einmal mehr bekommt, als er erbeten hat. Dabei geht man von einem anderen Menschenbild aus: Faule Mitarbeiter pastedGraphic_1.png pastedGraphic_2.png

sind eher die Folge einer bestimmten Einstellung im Unternehmen, nicht eine Eigenschaft der Mitarbeiter. Die ‹Möhren›- Ideologie, Leute leisten nur etwas, wenn man ihnen ‹Möhren› (Boni, variable Gehaltsbestandteile) in Aussicht stellt, ist passée. Eher gilt die intrinsische Motivation nach Deci: ‹Ich mache etwas engagiert, weil es mir Freude macht›. 

Gerade bei Unternehmen, die an der Spitze des technischen Fortschritts stehen (Apple, Google, Microsoft und Facebook) kann man die neue Organisation beobachten. Sie haben ein Thema: Innovationsdruck. Sie müssen laufend und schnell mit Innovationen auf den Markt kommen. Da ist Hierarchie hinderlich. Hier müssen auch Menschen integriert werden, die an der eigenen ganzheitlichen Entwicklung interessiert sind. 

Hierarchie als kulturelles Skript 

Das Problem ist, dass Hierarchie in unserem kulturellen Skript enthalten ist. Wir denken in Hierarchien. Er formt seit Menschengedenken den Bezugsrahmen. Fast alle gesellschaftlichen Bereiche wie Politik, Staat, Wirtschaft, Krankenhaus, Religion, Kirche sind hierarchisch aufgebaut. Fast überall in der Welt werden Kinder in der Schule hierarchisch zur Anpassung gebracht. 

Deutsche Unternehmen sind interessanterweise historisch bedingt etwas weniger hierarchieorientiert als die in vielen anderen Ländern. Die französische Unternehmenskultur ist schon merkbar autoritärer, patriarchalischer und hierarchischer. Erst recht sind autoritär-hierarchische Struturen in nahöstlichen und fernöstlichen Kulturen verbreitet. Allenfalls die niederländischen und die skandinavischen Unternehmenskulturen sind weniger hierarchisch. 

Aber lässt sich Hierarchie wirklich vermeiden? Die Antwort heisst, theoretisch nicht ganz, aber praktisch deutlich. Holacracy zeigt, wie kleinteilig man dann Rollen, Kontrakte und ‹Tension›-Bewältigung durchdenken muss (Robertson, 2016). Die Herrschaft der Hierarchie-Traditionalisten (‹hat es doch immer gegeben›) ist in den mentalen Modellen der Menschen allerdings sehr stark verankert. Hierarchie scheint seit Jahrtausenden das gewohnte mentale Modell der Menschen. 

Schlussfolgerung: Was ist neu an den neuen Ansätzen?
Die Antwort ist: ‹im Prinzip nichts›. Alles wurde schon mal angedacht. Aber der Kontext und die Zeit sind anders. Der Per- sonal- und Arbeitsmarkt (VUCA-World) ist durch die relative Knappheit des Fachkräfteangebotes und das Auftreten einer neu orientierten Generation (Generation Y) anders geworden. Die Chance wäre da, aber die Köpfe (Bezugsrahmen, kulturelles Skript) müssen frei werden und dieses Gegenmodell zum Populismus muss mit aktiver Verantwortung getragen werden. 

Literatur

· Felber, C. (2010): Die Gemeinwohlökonomie, Wien: Deutike. 

· Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Gebundene Ausgabe, München: Vahlen. 

· Laloux, F. (2016): Reinventing Organizations visuell: Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, Taschenbuch. München: Vahlen 

· Mohr, G. (2006): Systemische Organisationsanalyse, Grundlagen und Dynamiken der Organisationsentwicklung, Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie. …hier erhältlich*: https://amzn.to/3mIGpIy

· Mohr, G. (2009): Wirtschaftskrise – Von Angst und Gier zu Substanz und Anerkennung, Berlin: ProBusiness. 

· Mohr, G. (2015): Systemische Wirtschaftsanalyse Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie. …hier erhältlich*: https://amzn.to/3Y9EZ6X

· Pelinka, A. (2010): Populismus ist Kitsch ist Kunst ist Demokratie? Beitrag zur Installation der ‹Betrachterfigur› in Mals, 2010. 

· Robertson, B. (2016): Holacray: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt, München: Vahlen. 

Weiter vom Blog Feldrandwissen: https://mohr-coaching.de/2023/03/09/kontextuale-transaktionsanalyse-mohr-s-ta-talk-nr-26/

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